„Das waren noch Zeiten“, mag so mancher Zeitzeuge seufzend feststellen: Otto Waalkes trat im Jahr 1972 noch für 50 D-Mark und ein Hemd, das ihm seinerzeit gefiel, in Walsrode auf, in einer Phase seines Lebens, in der er mit Marius Müller-Westernhagen und Udo Lindenberg in einer Wohngemeinschaft in Hamburg durch die Studienzeit rauschte. Doch schon damals war nicht allen zum Lachen zumute: Rund zwei Jahre zuvor, im Jahr 1970, hatte ein Streik von Zivildienstleistenden in Schwarmstedt deutschlandweit für Furore gesorgt und später dann zu einer Reform der Kriegsdienst-Alternative in der Bundesrepublik geführt. Zoff gab es in der hiesigen Region einige Jahre später aber auch auf ganz anderer Ebene, nämlich in Sachen Gebiets- und Kreisreform. Als die Stadt Soltau 1977 ihren Kreissitz verlor, sind zwischen „Norden“ und „Süden“ tiefe Gräben entstanden, die bis heute nicht vollends zugeschüttet werden konnten, wie sich einmal mehr in der Diskussion um den Standort des zentralen Krankenhauses im Kreis zeigte. Ob Friedensbewegung, Anti-Atomkraft-Demos oder auch Engagement von Bürgerinnen und Bürgern gegen militärische Belastungen: Die Jahre 1969 bis 1990 waren im Heidekreis eine spannende Zeit voller Spannungen – mit Auswirkungen auf das Hier und Jetzt. Und genau das ist nachzulesen im neuen Jahrbuch des Landkreises Heidekreis.
War früher wirklich alles besser? Das ist aus heutiger Sicht zumindest fraglich. Dr. Stephan Heinemann, auch in diesem Jahr wieder Verfasser des Jahrbuches, hat im Zuge seiner Recherchen jedenfalls so manche Parallele zu heutigen „Aufregern“ entdeckt. Brennende Wälder und Überflutungen bewegten auch im Heidekreis schon vor rund vier Jahrzehnten die Gemüter, Diskussionen über Windkraft, Solarenergienutzung und Kampf gegen Umweltverschmutzung und Ressourcenverschwendung gab es ebenso – und zwar zu Zeiten, in denen es noch kein Internet, keine Mobiltelefone und keine sozialen Netzwerke gab. Es scheint fast so, als wären die Probleme von heute ein alter Hut. Im Zuge seiner Arbeit am Buch habe er so manches Déjà-vu-Erlebnis gehabt, so Heinemann.
Er stöberte auch für die neue Publikation im Auftrag des Landkreises in verschiedensten Archiven, interviewte zahlreiche Zeitzeuginnen und -zeugen und sichtete unzählige Fotos und Dokumente. Hatte er sich im vorherigen Jahrbuch 2021/22 noch mit dem Wirtschaftswunder in den 1950er und 1960er Jahren befasst, so war diesmal nicht etwa „Aufbruch“ das bestimmende Thema, der rote Faden, sondern vielmehr „Umbruch“. Die lesenswerte Publikation, praktischerweise vor dem Weihnachtsfest erhältlich, setzt seine bisherige Arbeit chronologisch fort. Sie beginnt mit dem Regierungsantritt von Kanzler Willy Brandt im Jahr 1969 und endet mit der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 – eine Zeitspanne, in der auch in der ländlichen Region viel passiert ist. Heinemann hat für die Aufarbeitung der „Reform- und Krisenjahre“ im Landkreis jedenfalls einen äußerst passenden Titel gefunden: „Zwischen Protest und Party“.
Am vergangenen Mittwoch stellten der Historiker, Landrat Jens Grote, Kreisverwaltungsmitarbeiterin Anke von Fintel, Dorothee Schröder, Geschäftsführerin des Kulturvereins Schneverdingen, Jörge Bartling von der Werbeagentur Bartlingmedia mit Sitz in Walsrode sowie die beiden Kreissparkassenverteter Markus Grunwald und Andy Bartsch das neue Jahrbuch in der Kulturstellmacherei in Schneverdingen vor. Die Kreissparkassen aus Soltau und Walsrode haben die Erstellung des Jahrbuches auch diesmal wieder als Sponsoren unterstützt.
„Zwei Jahre sind schon wieder herum, ein neues Exemplar liegt auf dem Tisch“, stellte Grote fest. So schnell wie die Zeit vergeht, hat er sich im neuen Jahrbuch auch „festgelesen“, wie er berichtete: „Es fällt mir schwer, es aus der Hand zu legen, weil es viel erklärt, was bis heute nachwirkt“, sagte der Landrat. Gerade der Teil mit den detailliert geschilderten Abläufen und Diskussionen im Zuge der Gebiets- und Kreisreform seien für ihn, so Grote, „sehr interessant und äußerst spannend.“ Der Landrat: „Für jeden, der die Reform erlebt hat, gibt es einen Aha-Effekt. Für alle anderen sind die Schilderungen erkenntnisreich und zeigen auf, warum viele Dinge im Landkreis bis heute so schwierig sind.“ Ein großes Lob richtete er an alle am Buch-Projekt Beteiligten und rührte sogleich die Werbetrommel für den knapp 170 Seiten umfassenden und reich bebilderten Lesestoff, der nach dem ersten Aufblättern sogleich Lust auf mehr mache: „Ich werde nicht der einzige sein, der das Buch nur schwer zur Seite legen kann.“
Von einer „runden Sache“ sprach Heinemann, ebenso von vielen anregenden Gesprächen mit auskunftsfreudigen Zeitzeugen. Dank seiner bisherigen Arbeit und der daraus resultierenden Vernetzung öffneten sich immer wieder neue Türen und damit auch Ordner, Kisten und Kartons mit relevantem Material. Deshalb seien auch im neuesten Jahrbuch wieder Fotos zu finden, die bislang noch nie veröffentlicht worden seien. So zum Beispiel Aufnahmen von den Ausschreitungen, zu denen es im Herbst 1983 in Fallingbostel gekommen sei, nachdem die NPD die dortige Heidmarkhalle für ihren Bundesparteitag gemietet habe.
Antifa-Gruppen riefen damals zu Gegendemonstrationen auf, die Lage eskalierte. Polizeibeamte wurden von vermummten Autonomen mit Pflastersteinen attackiert, die Beamten setzten Wasserwerfer und Tränengas ein. Es gab mindestens 80 Verletzte. Die örtliche Tageszeitung habe die Ereignisse seinerzeit, so Heinemann, „als bürgerkriegsähnliche Zustände bezeichnet.“
Proteste, allerdings friedlicher Art, gab es auch von Bürgerinnen und Bürgern, die sich gegen die militärischen Belastungen in der Heide und das Soltau-Lüneburg-Abkommen (SLA) stark machten. Das SLA gestattete den in Deutschland stationierten Truppen, ganzjährig auf den sogenannten „Roten Flächen“ zu üben. Lärm, Staub, Verkehrsbelastungen, eine Häufung von Unfällen und negative Auswirkungen auf den Tourismus führten zu Widerstand. SPD-Politiker Dieter Möhrmann aus Schneverdingen, damals Kreis- und Ratsfraktionsvorsitzender, initiierte eine Bürgerinitiative (BI), die mit vielfältigen Aktionen gegen das SLA mobil machte. Dieses lief nach der Wiedervereinigung aus, die BI aus Schneverdingen hatte ihr Ziel erreicht und löste sich 1995 auf.
Aufarbeitung der NS-Zeit, Einzug der Grünen in die Politik, Punks und Jugendbewegungen, Gründung von Kulturvereinen, Höfesterben, Feste und Feiern, erfolgreiche Sportler, Kampf um den Erhalt der Heidebahn, Beginn des Computerzeitalters, Firmenansiedlungen und -pleiten, Infrastrukturmaßnahmen – Heinemann wirft in seinem Jahrbuch einen Blick auf die verschiedensten Lebensbereiche. Erhältlich ist das in einer Auflage von 1.000 Exemplaren erschienene Buch zum Preis von 22,95 Euro in der Kulturstellmacherei in Schneverdingen und in zahlreichen Buchhandlungen im Heidekreis.