„Erinnere dich daran, dass du nicht alleine bist. Es gibt andere, die das Gleiche durchmachen“ – unter anderem diese aufmunternden Worte sind auf dem Faltblatt zu lesen, mit dem Julia de Bruycker aus Schneverdingen auf ihr Angebot aufmerksam macht. Im Dezember vergangenen Jahres hat sie in der Heideblütenstadt die Elterngruppe Konfetti-Kinder gegründet, die all denen Hilfe anbietet, die mit dem Thema Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) beziehungsweise Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS) zu tun haben. Der Name der Elterngruppe ist gut gewählt: In die Luft geworfene bunte Papierschnipsel wirbeln wild durcheinander, sind zugleich aber auch ein Symbol für Freude und Lebenslust. Manche sprechen bei ADHS auch von „Konfetti im Kopf“. Als Lehrerin und Mutter von fünf Söhnen, von denen bei zwei Jungen ADHS diagnostiziert worden ist, ist de Bruycker mit den Herausforderungen im Alltag bestens vertraut, kennt aber auch die Stärken von Menschen mit ADHS. „Sie sind kreativ, hilfsbereit, feinfühlig, emotional, ehrlich, begeisterungsfähig und spontan“, so die 45-Jährige. Auf der anderen Seite aber gebe es eben die typischen „Auffälligkeiten“. Und die haben es mitunter in sich: Von dieser laut de Bruycker „seit Jahren allgemein anerkannten Erkrankung“ betroffene Kinder und Jugendliche scheinen oft nicht zuzuhören, lassen sich leicht ablenken, sind vergesslich, bringen oftmals ihre Aufgaben nicht zu Ende. „ADHS-Kinder wachen jeden Tag mit einer gelöschten Festplatte auf. Stets geduldig zu bleiben, das ist für Eltern oft sehr schwer“, betont die Schneverdingerin.
Um Unterstützung anbieten zu können, hat sie die Anlaufstelle Konfetti-Kinder ins Leben gerufen. Es gibt einen Elternstammtisch, persönliche Beratung und Info-Abende mit Experten, zudem können innerhalb eines engmaschigen Netzwerkes Kontakte zu Fachleuten vermittelt werden. Wie wichtig es ist, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen, weiß de Bruycker aus eigener Erfahrung. Ihr Studium hat sich die Pädagogin mit Nachhilfe finanziert und arbeitet daher seit fast 20 Jahren mit Schülerinnen und Schülern, unter denen es stets auch Kinder und Jugendliche mit Auffälligkeiten gegeben habe. Auch als Lehrerin hat de Bruycker gerade in Zeiten der Inklusion immer wieder mit Themen wie ADHS, Autismus, Dyskalkulie (Schwierigkeiten beim Erlernen des Rechnens) sowie Legasthenie (Lese-Rechtschreibstörung) zu tun. Und wie es das Schicksal so will, haben zwei ihrer fünf Söhne eine gesicherte ADHS-Diagnose. „Ich kenne beide Perspektiven – als Lehrerin und vor allem als Mutter“, so die 45-Jährige.
Sie kann sich sehr gut daran erinnern, wie die Problematik in den Familienalltag Einzug gehalten hat. „Man wird seitens der Schule angesprochen – und dann folgt ein langer Diagnose-Prozess. Dann hat man irgendwann die Diagnose. Und wer kein gutes Netzwerk hat, steht völlig allein da.“ Hinzu komme das Unverständnis derjenigen, die ADHS nur vom Hörensagen kennen. „Es gibt oft Vorurteile“, so de Bruycker. Da werde Eltern nicht selten falsche Erziehung vorgeworfen, da höre man dann auch schon mal Sätze wie „Der müsste mal einen ordentlichen Klaps auf den Hintern kriegen.“
„Das macht wütend und auch traurig“, so die Schneverdingerin weiter. Fälschlicherweise werde vom „Zappelphilipp“ gesprochen, dabei seien Betroffene wegen Stoffwechsel- und Funktionsstörungen im Gehirn nur eingeschränkt in der Lage, ihre Aufmerksamkeit auf eine Sache zu konzentrieren.
Experten sind der Meinung, dass neurochemische und neurobiologische Besonderheiten die Ursache von ADHS sind. Das Gleichgewicht der Botenstoffe im Gehirn (Neurotransmitter) sei verändert. Noradrenalin und Dopamin komme hier eine zentrale Bedeutung zu. Diese Botenstoffe stünden an den erforderlichen Stellen nicht in ausreichender Menge zur Verfügung, was wiederum das Zusammenspiel von Aufmerksamkeits- und Motivationssystem beeinträchtige.
Laut Bundesgesundheitsministerium beginnt eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes- und Jugendalter und könne auch im Erwachsenenalter weiter bestehen. „Hinter ADHS verbirgt sich eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Man nimmt an, dass etwa zwei bis sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter krankhaften Störungen der Aufmerksamkeit und an motorischer Unruhe leiden“, teilt das Ministerium mit.
Experten gehen davon aus, dass zudem Umwelteinflüsse, also die Bedingungen, unter denen ein Kind in seiner Familie, im Kindergarten und in der Schule aufwachse, die Ausprägung und den Verlauf dieser Auffälligkeiten erheblich beeinflussten. Viele einzelne genetische Veränderungen wirkten zusammen, wobei auch andere Einflussfaktoren wie zum Beispiel Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen eine Rolle spielten und so für die Entwicklung von ADHS verantwortlich seien. Julia de Bruycker verweist in diesem Zusammenhang auf die andere Seite der Medaille: „ADHS-Kinder sind diejenigen, die unsere Gesellschaft voranbringen können. Sie gehen einen Weg nicht nur einmal, sondern 50-mal. Sie müssen ständig ihre Perspektive wechseln.“ Allerdings seien Menschen mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung wie auch Autisten zumeist „sehr ehrlich und direkt.“ Vom Gegenüber werde das nicht selten persönlich genommen, „und ein Konflikt ist dann vorprogrammiert.“
Die Schneverdingerin ist, wie sie betont, „sehr dankbar“, dass ihr im Fall ihrer Kinder damals recht zügig eine Kinder- und Jugendpsychologin aus Soltau beiseitegestanden habe, mit der sie nach wie vor gute Kontakte pflege. „Das war mein Glück“, sagt sie. Mit einem regelmäßigen Therapieangebot für die Kinder sei es jedoch nicht getan. Ob Psychotherapie, Ergotherapie, Elterntraining oder auch Medikamente – zumeist sei es ein Bündel von Maßnahmen, das im Zuge der Behandlung zu Verbesserungen führen könne.
Für Eltern sei es allerdings eine große Herausforderung, sich im Dschungel der richtigen Ansprechpartner, Fachleute und Therapiemöglichkeiten zurechtzufinden. „Sie brauchen eine Anlaufstelle. Hier gab es aber keine“, berichtet de Bruycker. Deshalb hat sie mit ihren Erfahrungen im Gepäck die Initiative ergriffen. „Ich habe mich an den Jugendhilfeträger Hilfen aus einer Hand gewandt“, so die Lehrerin. Mit entsprechendem Rückenwind von dieser Seite sei es schnell vorangegangen: „Hilfen aus einer Hand, das Mehrgenerationenhaus und Kommune inklusiv haben mich von Beginn an toll unterstützt“, unterstreicht die Schneverdingerin.
Über die sozialen Netzwerke startete de Bruycker dann einen öffentlichen Aufruf – und zum ersten Treffen konnte sie bereits ein Dutzend Interessierte begrüßen. Aus der vertrauensvollen Atmosphäre heraus ist eine Gruppe entstanden, in der sich Betroffene aus den verschiedensten Bereichen austauschen. Die Treffen stehen an jedem ersten Dienstag im Monat um 19 Uhr auf dem Programm, entweder im Mehrgenerationenhaus oder im Nebengebäude der KGS Schneverdingen. Den jeweiligen Ort erfahren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der eigens eingerichteten „WhatsApp-Community“, der per Einscannen eines QR-Codes beigetreten werden kann. Der QR-Code ist auf den Flyern und Visitenkarten der Elterngruppe zu finden. Es sei eine „wunderbare, warmherzige Gemeinschaft“ entstanden, so die Initiatorin. „Die Diagnose müssen Fachleute stellen. Wir geben Tipps und wir trösten, eine gute Gesprächsbasis ist dabei das A und O“, sagt de Bruycker. „Ich persönlich sehe mich als Vermittlerin zwischen Eltern und dem, was sie brauchen.“ Es sei immens wichtig, sich bei Fachleuten, die in der Gruppe ebenfalls vertreten seien, zu informieren, zum Beispiel, was die bei ADHS eingesetzten Medikamente angehe. „Wir selbst haben lange herumprobiert, bis wir die Medikamente gefunden haben, die unseren Kindern helfen.“ Bei Fragen wie dieser profitierten die mehr als 60 Community-Mitglieder vom Austausch in der Gruppe. Es mache das Leben leichter, umfassend informiert zu sein. „Vielen Eltern von ADHS-Kindern ist zum Beispiel nicht bewusst, dass ihnen ein Pflegegrad zusteht.“
Ein Spannungsfeld sei das Thema ADHS und Schule, gerade vor dem Hintergrund der Inklusion. Der Inklusionsgedanke an sich sei ein Schritt in die richtige Richtung, meint de Bruycker, doch das könne nur funktionieren, wenn auch das erforderliche Personal zur Verfügung stehe. Hier sei die Politik gefordert. Ohne entsprechende personelle Kapazitäten kämen Lehrkräfte schnell in ihre Grenzen. „Und dann leiden Pädagogen, Eltern und Kinder“, so de Bruycker: „Ich wünsche mir, dass Eltern und Schule eine Art Erziehungsteam bilden, zum Wohle der betroffenen Kinder.“ Wer Kontakt mit der Elterngruppe aufnehmen möchte, erreicht sie per E-Mail an konfetti.kinder.adhs@gmail.com.