„Rechne mit allem. Außer Urlaub“. Der Slogan, der auf der Internetseite des Veranstalters „Back Road Club“ zu lesen ist, gibt unmissverständlich die Marschroute vor. Der Club bietet mit seinen „Pothole Rodeos“ Abenteuertouren für Auto- und Motorradfreunde an, organisiert besondere Rallyes durch Österreich und Deutschland, den Balkan und das Baltikum. Wer Cocktails am Strand schlürfen oder sich entspannt auf einer Luftmatratze im Pool treiben lassen möchte, hat beim Angebot dieses „Reiseveranstalters“ einen großen Fehler gemacht. Mullersand statt Meer, Schotterpiste statt Sandstrand lautet die Maxime, denn der Schwerpunkt liegt hier auf Terrain, das Spannung statt Entspannung verspricht. Das verrät auch der Name der Rallyes, bedeutet er doch übersetzt „Schlagloch-Rodeo“. Das Besondere: Es dürfen nur Teilnehmer mit alten und baufälligen Autos und Zweirädern an den Start gehen, wobei die fahrbaren Untersätze je nach Klasse bereits reichlich Kilometer auf dem Buckel, weniger als 50 PS Leistung oder im Grunde nur noch Schrottwert haben sollten. Mit einem solchen Gefährt wagen sich nun auch die beiden gebürtigen Schneverdinger Andreas Schütte und Björn Bergmann in ferne Gefilde. Die beiden 44-Jährigen nehmen mit einem alten Mercedes-Benz C 200 T am „Pothole Rodeo Baltic“ teil.
Am vergangenen Montag, wenige Tage vor der Abfahrt am Freitag, sind die beiden Teilnehmer, die quasi die Lüneburger Heide bei der Rallye vertreten werden, in Schneverdingen damit beschäftigt, letzte Arbeiten am Fahrzeug vorzunehmen und den Mercedes probeweise zu beladen. „Ein Bekannter hat zu mir gesagt, dass man Mut braucht, um bei so einer Rallye mitzumachen. Und dass man mit meinem Auto auch besonders viel Glück brauchen wird“, lacht Bergmann. Er selbst hat da weniger Bedenken, zumal ihn sein treuer Benz, Baujahr 1999, bei beruflichen und privaten Fahrten nach wie vor sicher von A nach B bringt. Wenn er damit unterwegs ist, gibt er im wahrsten Sinne des Wortes Gas, hat er den blauen Kombi doch als Vielfahrer schon vor längerer Zeit so umrüsten lassen, dass er den Wagen sowohl mit Benzin als auch mit Gas volltanken kann. Das schont seitdem nicht nur den Geldbeutel, sondern erhöht auch die Reichweite. Und das wiederum kommt den beiden Abenteurern angesichts der bevorstehenden insgesamt rund 5.000 Kilometer, die sie in Angriff nehmen, durchaus entgegen.
Mehr als 400.000 Kilometer hat der Benz schon jetzt auf dem Tacho. Bergmann besitzt den Wagen seit 2007. „Ich selbst bin ich damit rund 250.000 Kilometer gefahren“, so der 44-Jährige. Nicht ohne Stolz führt er den Wagen vor. Ein guter Anlass, das Auto anzulassen. So richtig „gesund“ klingt er zwar nicht, der Mercedes, doch trotz des „Klapperns“ ist der Motor laut Bergmann völlig in Ordnung.
Von außen allerdings hat der Zahn der Zeit auch für den Laien sichtbar am Fahrzeug genagt. Der Lack ist ab, insbesondere an den vorderen Kotflügeln. Von den „entblößten“ Stellen lenken allerdings die weißen Rallyestreifen und die vielen Aufkleber ab, mit denen die gebürtigen Heidjer den alten Benz dem Anlass entsprechend „aufgemotzt“ haben.
Komplettiert wird die „Kriegsbemalung“, die den „Oldie“ in Kombination mit den eigens montierten Zusatzscheinwerfern tatsächlich etwas „bissiger“ aussehen lässt, durch eine bekannte Zeichentrickfigur, die den Platz des obligatorischen Sterns vorn auf der Motorhaube eingenommen hat: ein Kojote, der auf einer Rakete sitzt. Wer alte Trickfilme mag, erkennt ihn sofort, wagt doch „Wile E. Coyote“ den wilden Ritt über dem Mercedes-Aggregat. Viele kennen auch heute noch die Verfolgungsjagden, die sich der stets vom Pech verfolgte Kojote und der Road Runner, humorvoll ab 1949 von talentierten Zeichnern in Szene gesetzt, in einer wüstenartigen Umgebung lieferten. Pechvogel „Wile E. Coyote“ soll den beiden 44-Jährigen nun unterwegs Glück bringen. „In 17 Jahren hat mir niemand den Stern geklaut – und jetzt habe ich ihn selbst abmontiert“, lacht Bergmann.
Bleibt zu hoffen, dass er und Schütte – anders als ihr Glücksbringer in der Zeichentrickserie – von Pleiten und Pannen verschont bleiben. Grundsätzlich gilt, dass die Kraft bei der Fahrt durch die baltischen Staaten in der Ruhe liegt. Bei dieser europäischen Abenteuer-Rallye geht es eben nicht um Geschwindigkeit, sondern um das Erlebnis an sich und den Zusammenhalt aller, die sich auf den beschwerlichen Weg gemacht haben. Darüber hinaus gilt es, im Zuge der Fahrt Sehenswürdigkeiten und sogenannte „Lost Places“, sinngemäß übersetzt vergessene Orte, zu erkunden.
Dieser Weg wird für Schütte und Bergmann indes kein leichter sein, haben es doch bereits An- und Abreise in sich. Schon vor dem eigentlichen Start müssen die beiden Auto- und Abenteuerfreunde „Kilometer fressen“. Gestartet wird nämlich im Osten Polens. Über Litauen, Lettland und Estland geht es dann zurück nach Polen. Vier Länder, sieben Tage, 2.500 Kilometer – so lässt sich das „Pothole Rodeo 2024 Baltic“ kurz und knapp zusammenfassen. Bequemes „mitschwimmen“ auf der Autobahn ist dabei zumindest bei der Rallye Tabu. Die Organisatoren schicken die rund 170 startenden Teams nur allzu gern über Straßen und Schotterwege, die sich mit ihrer großen Anzahl an Schlaglöchern als Herausforderung für Mensch und Material präsentieren. An einigen Passagen werden sich die Fahrerinnen und Fahrer durch Mullersand kämpfen müssen, darüber hinaus wird die eine oder andere Prüfung auf sie warten.
Bergmann hat seinen Mercedes, auf dessen Kennzeichen ganz offiziell eine noch recht aktuelle TÜV-Plakette klebt, angesichts der bevorstehenden Aufgaben kürzlich noch einmal auf einem Feldweg in heimischen Gefilden einem Härtetest unterzogen. Er wollte ausprobieren, wie sich die Federung auf unebenem Untergrund so macht. Diese meisterte ihre Aufgaben zufriedenstellend, „aber leider“, so Bergmann, „ist der Querlenker abgerissen.“ Doch selbst durch dieses Malheur ließen sich die beiden Abenteurer nicht ausbremsen. Der Schaden war nach der „Test-Fahrt“ mit unbefriedigendem Ausgang relativ schnell behoben. „Wir haben auch noch einmal einen Kfz-Meister unter das Auto schauen lassen. Der meinte, dass Aufhängung und Fahrwerk gut aussehen, für alles andere aber bräuchten wir Glück“, so der Benz-Besitzer. Grund zur Sorge bereitet das offensichtlich nicht: „Wer unterwegs eine Panne hat, wird nicht zurückgelassen. Alle, die mitfahren, helfen sich gegenseitig“, so Bergmann.
Aber wie kommt man auf die Idee, sich so etwas im Urlaub freiwillig anzutun? „Ich wollte immer schon mal bei der ‚Baltic Sea‘ mitfahren. Das ist eine noch etwas größere Rallye. Aber bislang hat sich das nicht ergeben“, erklärt Bergmann. Er und Schütte kennen sich bereits seit Schulzeiten. „Wir sind zusammen zum Konfirmandenunterricht gegangen, haben gemeinsam den Führerschein gemacht, uns schon an der KGS Schneverdingen für Autos interessiert und später an ihnen geschraubt“, berichtet Schütte. Beruflich haben beide jedoch andere Wege eingeschlagen. Bergmann ist als IT-Berater tätig, Schütte als Filmemacher selbstständig. Bei letzterem ploppten bei der Internetnutzung zum Jahreswechsel immer wieder mal Werbeanzeigen für das „Pothole Rodeo Baltic“ auf. Und so sprach er seinen früheren Mitschüler kurzerhand an, ob man das Abenteuer denn nicht gemeinsam angehen wolle. Gesagt, getan. „Wir hatten Glück, denn eigentlich war die Rallye bereits ausgebucht. Über einen Warteplatz haben wir dann als Nachrücker aber doch noch einen Startplatz bekommen“, so Schütte: „Das Gute war, dass Björn schon ein entsprechendes Auto vor der Tür hatte.“
Vor rund einem Monat haben die beiden Mittvierziger damit angefangen, den Mercedes vorzubereiten. Unter anderem bauten sie ein CB-Funk-Gerät ein, montierten einen Dachträger und an diesen sowie an die Frontstoßstange Zusatzscheinwerfer. Das Bekleben der Karosserie war der krönende Abschluss. Ein Sticker des Veranstalters auf der rechten Seite des Fahrzeugs dürfte als Anregung gedient haben, jede Menge Ausrüstung zu beschaffen. „Von einfach war nie die Rede“ steht da nämlich in weißen Lettern auf schwarzem Untergrund.
Schütte und Bergmann haben vorgesorgt: Auf dem Träger auf dem Dach des Kombis verzurren sie unter anderem zwei Ersatzreifen auf Felge, einen Benzinkanister und Offroad-Anti-Rutsch-Boards. Letztere werden benötigt, um sich im Falle eines Falles nach dem Festfahren aus eigenen Kräften befreien zu können. Auch darüber hinaus haben die „Rodeo-Reiter“ eine ganze Menge an Bord: Werkzeug, Abschleppseil und -stange, Wagenheber und Unterstellböcke, Ersatzteile für die Elektrik, Schläuche, Öl- und Getriebeöl, Keilriemen und laut Bergmann besonders wichtig, „jede Menge Kabelbinder, falls wir auf die Schnelle etwas zusammenflicken müssen.“ Und Schütte: „Wir werden wohl auch eine Akku-Flex einpacken, falls wir bei Reparaturen etwas rustikaler zu Werke gehen müssen.“
Bergmann hofft, dass dies nicht nötig sein wird, denn: „Eigentlich soll die Kiste hier nachher wieder im guten Zustand stehen, sie soll mich nämlich auch weiterhin zur Arbeit bringen.“ Bis dahin wird der Mercedes im Ausland multifunktional genutzt. Er dient nämlich nicht nur als Fortbewegungsmittel, sondern auch als Schlafstätte. Einer der beiden 44-Jährigen wird im Auto nächtigen, der andere im Zelt. Mal wird es Übernachtungen in den sogenannten „Rodeo-Camps“ geben, in denen sich alle Teilnehmer treffen, mal müssen die Fahrzeugbesatzungen und Motorradfahrer ihre Stellen zum Schlummern auf eigene Faust entdecken. Was Schütte und Bergmann gefällt, ist, dass sie mit ihrer Teilnahme an der Veranstaltung auch etwas Gutes tun, werden bei den „Pothole Rodeos“ doch traditionell Gelder für gute Zwecke gesammelt. Beiden schwebt vor, sollte die Premiere gelingen und Spaß machen, künftig weitere Abenteuer dieser Art in die Urlaubsplanung aufzunehmen.
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