Zur falschen Zeit am falschen Ort – das ist schnell mal so dahingesagt, doch auf das, was Familie Koch aus Schneverdingen erlebt hat, trifft das zweifelsfrei zu. Sie war zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt mit ihrem Wohnmobil in den slowenischen Alpen in der Nähe der Stadt Kamnik zu Gast, um in der idyllischen Bergregion in rund 2.000 Metern Höhe entspannt die Nacht zu verbringen und dann weiter nach Kroatien zu fahren. Doch daraus wurde nichts. In der Nacht vom 3. auf den 4. August begann für den 48-jährigen Sven Koch, seine 40-jährige Frau Melanie Scholz-Koch, den vierjährigen Sohn Korbinian, die zwölfjährige Lina, die achtjährige Marie-Sophie und Familienhund „Wacki“ ein „Abenteuer“, auf das alle liebend gern verzichtet hätten. Sintflutartige Regenfälle hatten Erdrutsche und Steinlawinen zur Folge, die die einzige Zufahrtsstraße zerstörten und blockierten. Stromversorgung und Mobilfunknetz brachen zusammen, die Schneverdinger und rund weitere drei Dutzend Einheimische und Touristen waren von der Außenwelt abgeschnitten. Vom gesamten Ausmaß der Katastrophe in Slowenien hatten die Heidjer zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung. Erst als sie mit einem Hubschrauber evakuiert wurden, sahen sie aus der Vogelperspektive die furchtbaren Folgen des Unwetters. Die Angehörigen im fernen Deutschland derweil machten sich große Sorgen um ihre Lieben.
Als sich Sven Koch am vergangenen Mittwoch telefonisch beim Heide-Kurier meldete, stand er hörbar noch unter Stress, berichtete ohne Punkt und Komma vom „Horrortrip“ seiner Familie. Einen Tag danach ist die größte Anspannung abgefallen. Bei einem Glas Mineralwasser im Garten der Familie lassen er, seine Frau und die Kinder das in den vorangegangenen Tagen Erlebte Revue passieren. „Jetzt können wir schon wieder ein wenig darüber lachen“, sagt der 48-Jährige. In Slowenien allerdings, räumt er ein, habe er zeitweise um das Leben der Familie und sein eigenes gebangt. Der bei der Hamburger Hochbahn arbeitende Busfahrer ist von seinem Arbeitgeber vorübergehend freigestellt, der sich auch um psychologischen Beistand für seinen Mitarbeiter gekümmert hat. Auch Ehefrau Melanie, die als Hauswirtschafterin bei einer Firma arbeitet, ist krankgeschrieben. Eine Stunde vor dem Termin mit dem HK-Redakteur gab es per Videokonferenz ein Gespräch mit einem Psychologen. Die Markusgemeinde unterstützt, auch Familie und Freunde kümmern sich nach Kräften. So sind die Eltern von Sven Koch sogleich aus Langenfeld in Nordrhein-Westfalen in die Heide gereist. Sein 80-jähriger Vater und seine 72-jährige Mutter hatten sich, nachdem der Kontakt abgerissen war und sie die Bilder aus Slowenien im TV gesehen hatten, mehr als große Sorgen gemacht. „Sie sind sofort hierhergefahren, damit sie uns gleich bei der Rückkehr in die Arme nehmen können“, sagt der Familienvater.
Dann erzählt er, wie der Traumurlaub über Nacht zum Albtraum wurde. „Wir waren im April schon einmal mit unserem Wohnmobil für ein paar Tage in Slowenien“, so Koch. „Es ist ein wunderschönes Land. Die Menschen sind sehr offen und nehmen einen mit großem Herzen auf. Land und Leute sind einfach toll“, ergänzt seine Frau. Und so genossen die Erwachsenen und Kinder in den Bergen an einer Waldhütte mit Stellplätzen für Camper zunächst das gute Wetter. „Es war 29 Grad Celsius warm, wir haben bei Sonnenschein gegrillt und alle draußen gesessen. Gegen 21.30 Uhr fing es dann an zu regnen“, berichtet der Busfahrer, der 1998 aus Langenfeld nach Schneverdingen gezogen ist und am vorherigen Wohnort bei der Feuerwehr aktiv war: „Und was hier bei uns Starkregen ist, ist dort Nieselregen.“ Nachts habe es ein kräftiges Gewitter gegeben. Unablässig seien die Regenmassen auf das Dach des Ford Hymer geprasselt, so Koch weiter und macht das Geräusch mit seinen Fingerkuppen auf dem Gartentisch nach. Das Grollen und Donnern habe einen weiteren Beitrag zur Schlaflosigkeit der Insassen geleistet. „Wir haben uns die Bettdecken über den Kopf gezogen“, sagt die achtjährige Marie-Sophie mit leiser Stimme. „Als wir morgens aufgestanden sind, sahen wir das Desaster“, erinnert sich ihr Vater: „Die Plätze waren ausgespült, ein Waldweg runtergekommen, die Straße zum Teil weggespült und abgerutscht.“ Er machte einen Erkundungsgang entlang der Zufahrtsstraße und war entsetzt. Überall lag Geröll auf der Straße. Und der Regen hörte nicht auf, sondern wurde wieder stärker. Bei seinem „Kontrollgang“ habe er neun abgegangene Steinlawinen gezählt. Ihm sei ein Mann entgegengekommen, der für zwei Kilometer insgesamt fast fünf Stunden benötigt habe. „Go home, go home“, habe ihm dieser aufgeregt angeraten. Unterwegs blieb Koch immer wieder knietief im Schlamm stecken. „Die Jeans konnte man danach hinstellen“, so der Schneverdinger. Das Handy funktionierte noch. Er rief seine Mutter an, ebenso einen früheren Feuerwehrkollegen aus Langenfeld. Letzterer habe ihm angeraten, ruhig zu bleiben, die Slowenen seien bekannt dafür, Schäden dieser Art schnell beseitigen zu können. Doch es habe immer weiter geregnet. Die Familie versuchte das Beste aus der Situation zu machen. Doch dann brachen das Strom- und das Mobilfunknetz zusammen.
„Wir hingen fest – ohne Strom und ohne Telefon“, so Koch. Und weil es unablässig weiter regnete und er sah, dass in der Umgebung immer mehr Felsen ausgespült wurden und der Boden weiter aufweichte, wurde ihm zunehmend mulmig. Zudem machte er sich Sorgen, dass die Lebensmittel zur Neige gehen. „Wir hatten was an Bord, aber eigentlich wollten wir ja nur eine Nacht bleiben und dann einkaufen gehen. Wichtig war uns vor allem, dass die Kinder genug zu essen und zu trinken haben.“ Beängstigend sei gewesen, wie schnell und heftig sich die Natur im Umfeld verwandelt habe: „Aus dem kleinen 60 Zentimeter breiten Bach mit kristallklarem Wasser war ein geschätzt 18 Meter breiter Strom geworden, eine braune Suppe, die alles mit sich gerissen hat. Die Einheimischen sagten, dass sie so etwas noch nicht erlebt hätten“, so Koch: „Ich habe mir gedacht: Hoffentlich kommen wir hier lebend raus!“
Den knapp 50 Personen rund um die Hütte, darunter 20 Kinder, das jüngste sieben Monate alt, blieb nichts anderes übrig, als auszuharren. Neben Slowenen waren Belgier, Tschechen, Franzosen und Ungarn vor Ort „gefangen“. Eine weitere Nacht im Wohnmobil war die Folge. „Ich habe kaum geschlafen, ständig überlegt, wie wir dort rauskommen“, berichtet der Schneverdinger. Bereits in der Nacht von Donnerstag auf Freitag hätten sie einen Hubschrauber gehört, dessen Crew jedoch nicht auf die Gruppe aufmerksam geworden sei. Am Samstagmorgen, gegen 8 Uhr, hatte der Schneverdinger die Idee, ein SOS-Zeichen zu formen. „Wir haben dazu einen rosafarbenen ‚Hello Kitty‘-Teppich zerschnitten und Handtücher mit auffälligen Farben genommen“, sagt Koch. Außerdem hätten seine Frau und er den Kindern Warnwesten angezogen und auch sich selbst welche übergestreift.
Mit seinem Handy versuchte er von erhöhten Positionen aus Zugang zum Netz zu bekommen und hatte plötzlich „einen Balken“. Sofort schickte er SMS mit den Koordinaten ihres Standortes und „SOS – Wir brauchen Hilfe“ raus, unter anderem nach Düsseldorf, Hamburg und Schneverdingen. „Die Kurznachrichten sind aber erst später rausgegangen, was ich da noch nicht wusste“, so Koch. Kurze Zeit später hörten die Heidjer einen weiteren Hubschrauber. „Ich habe mir die Warnweste ausgezogen und damit gewinkt“, berichtet Melanie Scholz-Koch. Ihr Mann griff derweil zur Taschenlampe und „rief“ per Lichtsignalen mit dem SOS-Morsecode „drei kurz, drei lang, drei kurz“ um Hilfe. Sie wurden gesehen und kurze Zeit später seilte sich ein Polizeibeamter aus dem „Heli“ ab.
„Ich bin die 400 Meter durch Wasser und über Stock und Stein zu ihm hingelaufen“, erinnert sich der Heideblütenstädter. Der Slowene sprach glücklicherweise Deutsch, so dass ihm Koch die Lage vor Ort schnell erörtern konnte. „Natürlich ging es darum, zuerst die Frauen und Kinder auszufliegen“, so der 48-Jährig weiter.
In Windeseile galt es, das allernotwendigste einzupacken - und gegen 9 Uhr wurden seine Frau und die Kinder samt Vierbeiner „Wacki“ auf dem Luftweg evakuiert. „Dass der Hund mit dabei war, war sehr gut für die Kinder“, betont Koch. „Die Kinder und ich – wir sind zuvor noch nie geflogen“, fügt seine Frau hinzu. Die Rettungsaktion zog sich dann bis abends hin. „Sie musste zwei- bis dreimal unterbrochen werden, weil es zu stark regnete“, berichtet ihr Mann. Er selbst wurde gegen 17 Uhr an Bord des Helikopters genommen.
Aus der Vogelperspektive sahen die Evakuierten erstmals das Ausmaß der Katastrophe, ausgelöst durch rund 36 Stunden Starkregen. Die Schneverdinger waren erschüttert: Über die Ufer getretene Flüsse, weggespülte Straßen, Bergrutsche, die komplette Häuser mit sich gerissen haben, Überschwemmungen so weit das Auge reichte. Das kleine EU-Land erlebte die wohl größte Naturkatastrophe seiner Geschichte, auch Österreich und Kroatien hatten erheblich unter dem Unwetter und den dramatischen Folgen zu leiden. „Fabriken sind weg, Häuser, Straßen und Brücken. Zwei Drittel von Slowenien standen unter Wasser. Ohne Hilfe schaffen die das nicht“, so Koch. Und seine Frau: „Viele Menschen dort stehen vor dem absoluten Nichts.“
Zutiefst beeindruckt waren die Schneverdinger von der Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft der Slowenen. Sie wurden nach der Evakuierung in einer Ferienanlage in Snovik untergebracht. „Wir konnten endlich wieder in weichen Betten schlafen – und vor allem endlich duschen“, so Mutter Melanie: „Alles war toll organisiert und wir wurden mit Lebensmitteln und sogar Hundefutter für Wacki versorgt.“
Im TV sahen die Heidjer dann die Bilder der verheerenden Auswirkungen des Unwetters. „Da wurde uns vollends bewusst, in was für einem Katastrophengebiet wir uns befunden hatten“, erklärt Scholz-Koch. Die Retter hatten bereits bei der Evakuierung viel Herz gezeigt. Im Hubschrauber etwa nahm ein Besatzungsmitglied spontan seinen Aufnäher vom Arm seines Overalls ab und schenkte ihn zur Aufmunterung dem Sohn der Familie. Auch von anderen Rettern gab es „Souvenirs“ mit auf den Weg, eine Rettungsweste und eine Mütze der Feuerwehr. „Das ist etwas ganz Besonderes für uns“, unterstreicht Koch mit aufgewühlter Stimme: „Wir sind der Hubschrauberbesatzung, den Polizisten und den anderen Rettungskräften unendlich dankbar. Das sind unsere Helden.“
Auch die Hilfsbereitschaft des Slowenen Luca Schnabl, der im Katastrophenschutz mit leitenden Aufgaben betraut ist, sowie dessen Schwester, der Notfallsanitäterin Lara, werden die Schneverdinger wohl nie vergessen. Die Geschwister und die Mutter der beiden hatten sich rührend um die Familie gekümmert und sie für die Rückfahrt nach Deutschland mit Kuchen, Obst und Getränken versorgt. Maßlos enttäuscht sind die Heidjer allerdings vom Auswärtigen Amt, mit dem Sven Koch Kontakt aufgenommen hatte: „Wir baten um Hilfe, um wieder nach Deutschland zurückzukommen. Als mich eine Frau am Ende der Leitung fragte, warum wir denn überhaupt in Slowenien Urlaub gemacht hätten, hat es mir gereicht. Da habe ich aufgelegt.“
Nach dieser Enttäuschung nahm das Ehepaar die Organisation des Heimwegs in die eigenen Hände. Günstigste Variante war die Fahrt mit der Bahn. Zunächst ging es mit dem Taxi zum Bahnhof in Ljubljana. Weil teils Brücken zerstört waren, fuhren die Schneverdinger abwechselnd mit Bus und Bahn. Von Graz aus ging es weiter nach Salzburg, wo eine längere Wartezeit zu überbrücken war und nach Augsburg. Das Ziel Hamburg rückte näher. Alle waren fix und fertig, der Zug in Richtung Hansestadt rappelvoll. Die Kinder schliefen mit „Wacki“ im Gang auf dem Boden, die Erwachsenen versuchten im Stehen eine Mütze Schlaf zu bekommen. Dann endlich war „der Norden“ erreicht. Freund Andre Krampe aus Schneverdingen holte die erschöpfte Familie vom Bahnhof ab. Ein weiterer, Jens von Elling, hatte derweil nach der noch vorhandenen „Corona-Liste“ für die Familie eingekauft, damit etwas zu essen und zu trinken im Kühlschrank und auch „Wacki“ versorgt ist.
Freunde und Familienangehörige nahmen die Schneverdinger überschwänglich in Empfang. Klar, dass beim Wiedersehen auch Tränen flossen. Den Ford Hymer, im Januar dieses Jahres für 46.000 Euro gebraucht gekauft und in Eigenarbeit um einen Backofen, eine TV- und Satellitenanlage sowie eine Solaranlage ergänzt, musste die Familie schweren Herzens zurücklassen, ebenso fast alles, was sich darin befand. „Das Wohnmobil dürfte jetzt futsch sein. Bei der Feuchtigkeit wird alles gammeln“, so Koch. „Das ist die letzte Erinnerung, die ich daran habe“, sagt er und klimpert mit den Fahrzeugschlüsseln. Finanziell habe das Ganze ein Loch in die Familienkasse gerissen, „wir sind sozusagen Pleite“, berichtet der Familienvater. Der ADAC habe allerdings bereits signalisiert, die Reisekosten zu übernehmen. Er gehe davon aus, so der Schneverdinger weiter, dass die Versicherung wegen des Katastrophenfalles die Kosten für das Wohnmobil übernehmen werde, „aber das kann dauern. Wir brauchen jetzt erst einmal ein offizielles Schreiben aus Slowenien, dass wir es dort zurücklassen mussten.“ Am wichtigsten sei jedoch: „Wir sind froh, dass wir noch leben!“
Seine Frau hat eine Zerrung am Arm erlitten, als sie in den Helikopter gezogen wurde, er selbst hat sich in seinen nassen Turnschuhen die Füße blutig gelaufen. Die Kinder sind allesamt ohne körperliche Blessuren zurückgekehrt. „So ein Erlebnis prägt, dass hat uns als Familie noch näher zusammengebracht“, unterstreicht Melanie Scholz-Koch: „Die Kinder waren einfach super und haben sich tapfer geschlagen.“
Die Schneverdinger überlegen jetzt, eine Spendenaktion für die Menschen im betroffenen Gebiet bei Kamnik ins Leben zu rufen, um quasi etwas zurückzugeben. Die „Retter-Familie“ Schnabl will sie unbedingt noch einmal besuchen, um sich für die große Unterstützung, Menschlichkeit und Herzlichkeit zu bedanken.