Es war ein durchaus umstrittenes Stück Fernsehen, aber eine nach dem Deutschlandstart im Jahr 2000 international erfolgreiche und in fast 70 Ländern ausgestrahlte Show: das TV-Sendeformat „Big Brother“. Verschiedene Menschen wurden zur Belustigung des Publikums zum Teil mehrere Monate in einem als Wohnumgebung eingerichteten Container eingepfercht und mussten teils abstruse Aufgaben erledigen, um nicht vom Publikum hinausgewählt zu werden. Die „Kaiser“, also die Zuschauer, machten bei Nichtgefallen des Dargebotenen per Anruf den Daumen nach unten. „Wer nicht unterhält, fliegt raus“, lautete das Motto. Das, was die Menschen damals vor das Fernsehgerät zog, hätte sich selbst der englische Schriftsteller und Journalist George Orwell als Autor seines Romans 1984 um den ominösen Herrscher „Big Brother“ wohl nicht träumen lassen. Wie im Sinne seiner ernst gemeinten Warnungen vor totalitären Systemen war der „Große Bruder“ plötzlich im Dienste der seichten TV-Unterhaltung „immer da“. Im Soltauer Ortsteil Woltem zeigt sich allerdings, dass in einem Container auch Unterhaltung mit Anspruch geboten werden kann. In dieser „Metallbox“ stehen die „Eingesperrten“ zwar auch unter dauerhafter Kamerabeobachtung, können aber glücklicherweise auf eigene Faust entkommen – vorausgesetzt, sie bringen Auffassungsgabe, Gehirnschmalz und Freude am Rätseln mit.
Hauke Alvermann (28) und seine Frau Katharina (27) haben mit Hilfe von Familie und Freunden und mit viel Herzblut aller Beteiligten einen sogenannten Escape-Room kreiert. Dabei handelt es sich um ein interaktives Live-Spiel, bei dem Teilnehmer in einem thematisch gestalteten Raum oder auch mehreren Räumen eingeschlossen sind und gemeinsam Rätsel lösen müssen, um so, wie der aus dem Englischen übersetzte Name schon sagt, „entkommen“ zu können.
Hauke Alvermann hatte vor rund drei Jahren Wind davon bekommen, dass in Heber Container zum Verkauf standen. Eigentlich hatte er damals nicht genug Geld für eine Anschaffung dieser Größenordnung, aber auf Nachfrage habe ihm „ein sehr guter Kumpel“ finanziell unter die Arme gegriffen, berichtet Alvermann. Gesagt, gekauft. Dank eines Lastenträgers auf Rädern und eines Krans stand die 3,50 mal neun Meter große „Kiste“ schließlich auf dem Hof der Familie in Woltem. Die ursprüngliche Idee, das kantige Objekt in ein ansprechendes Tiny-House zu verwandeln, scheiterte – einerseits an der Bürokratie, andererseits an den möglichen Kosten. „Wir gründeten eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts zum Bau und zur Vermietung von Ferienwohnungen, haben aber schnell gemerkt, dass es mit den Genehmigungen und auch einem Abwasserkanal und Zulauf, den wir hätten bauen müssen, nicht einfach wird“, sagt Hauke Alvermann.
Es musste also Plan B her. Weil er und seine Frau in der Freizeit bereits mit Begeisterung Escape-Rooms im Raum Hamburg und Hannover besucht hatten, reifte in den Köpfen des Paares die Idee, selbst einen „Rätsel-Raum“ zu kreieren. „Bei unseren Besuchen haben wir sehr schnell gemerkt, was uns Spaß macht – und was nicht“, erklärt der 28-Jährige. Seine Frau und er setzten sich zusammen und erarbeiten bis Februar vergangenen Jahres ein Konzept. Schon früh stand fest, dass das Thema einen regionalen Bezug haben sollte. „Erst muss die Geschichte stehen, dann kann man mit dem Rest loslegen“, erklärt Alvermann. Auf einem Hof in ländlicher Region war die Marschroute recht schnell festgelegt, die „Rahmenhandlung“ lag quasi auf der Hand. „Bauer Hermann“ hat Eierdiebe erwischt, die in seinem Stall lange Finger gemacht haben. Kurzerhand schließt er die Übeltäter, also die Spielerinnen und Spieler, in seiner Scheune, die er zu seinem Rückzugsort ausgebaut hat, ein. Der Landwirt schwingt sich auf seinen Traktor, um in die Stadt zu fahren und die Polizei zu informieren. Glücklicherweise ist das Gefährt recht langsam unterwegs, sodass den „Inhaftierten“ gut eine Stunde Zeit bleibt, um sich aus der misslichen Lage zu befreien. Womöglich können sie dabei sogar aufdecken, dass „Bauer Hermann“ selbst kein Unschuldslamm ist, sondern durchaus Dreck am Stecken hat.
Das ist also das Szenario, das sich Hauke und Katharina Alvermann für Escape-Room-Freunde ausgedacht haben. Egal ob in Berlin, Hamburg, oder auch auf dem „platten Land“: Damit der Rätselspaß auch wirklich Freude macht, sollten die Aufgaben unbedingt haptische Elemente beinhalten, technische Gimmicks andere Überraschungen. Learning by doing ist in Escape-Rooms keine hohle Phrase, sondern unbedingt erforderlich, um die eine oder andere (Geheim-)Tür zu öffnen. Gruppen, die sich den Weg in die Freiheit bahnen wollen, sind dazu gezwungen, Dinge auszuprobieren, zu diskutieren und zu kombinieren. Und wer dafür bezahlt, sich einsperren zu lassen, der erwartet freilich auch eine gewisse Liebe zum Detail.
All das war dem Ehepaar Alvermann freilich bewusst, als es sich auf dieses Abenteuer eingelassen hat. Bereits der Planungsprozess bereitete ihm viel Freude, mehr aber noch die praktische Umsetzung, zumal es vom Vater beziehungsweise Schwiegervater bis hin zum Freundeskreis geschätzte Menschen in das Projekt einbinden konnte. Familie Alvermann betrat Neuland und nahm ein Projekt in Angriff, das trotz der einen oder anderen Hürde zunehmend Spaß machte. Eine Herausforderung, aus der letztlich keiner der Beteiligten entkommen wollte. Allerdings sind gute Ideen in Fällen wie diesen die eine Sache, die praktische Umsetzung hingegen steht auf einem anderen Blatt.
Weil im vergangenen Jahr im Juni eine Veranstaltung des Landvolks anlässlich der Aktion Tag des offenen Hofes auf dem Programm stand, hatte Familie Alvermann den Ehrgeiz, den Container zu dieser öffentlichen Veranstaltung zumindest schon mal von außen „aufzuhübschen“, nicht zuletzt, um so Neugier auf das Innere zu wecken. „Mit Hilfe von Freunden haben wir das rechtzeitig hinbekommen“, so Hauke Alvermann.
Nichts ist unmöglich: Das Schwergewicht wurde dank rollender Mechanik auf den richtigen Platz bugsiert und per Anstrich in Eigenarbeit ansehnlich gestaltet. Die Buchstaben für den Schriftzug „Escape Room“ fertigte ein treuer Mitarbeiter des Hofes an, der jeden Buchstaben einzeln aus OSB-Platten heraussägte. Für den auffälligen Gelbton der ins Auge springenden Lettern zeichnete Ehefrau Katharina verantwortlich. „So haben wir dann Stück für Stück weitergemacht“, erklärt der Ideengeber.
Die in einer Reihe von Gesprächen ausgeknobelten Rätseleinlagen für zahlende Kunden bedurften dann aber auch der Kunstfertigkeit eines Fachmanns. Schließlich sollen Geheimtüren nicht gleich als solche zu erkennen sein. Das Motto „Was nicht passt, wird passend gemacht!“ ist in solchen Fällen, wo es auf den Millimeter ankommt, keine Option.
Für die erforderlichen Maßanfertigungen sorgte letztlich ein eigens beauftragter Tischler, wobei natürlich recht hohe Kosten entstanden. Aber dank der Handwerkskunst des Profis und diverser Testläufe durch den Freundeskreis konnte letztlich bestätigt werden: Sitzt, passt, wackelt (nicht) und hat Luft!
Die Kunst beim Anbieten einer solchen Freizeitbeschäftigung ist es, die „Profis“, die schon etliche Räume dieser Art besucht haben, aber andererseits auch die Neueinsteiger zufriedenzustellen. Einen Mittelweg zu finden, das ist alles andere als einfach. Familie Alvermann hat ganz bewusst versucht, hier die entsprechende Balance zu finden.
Selbst wer als völlig ahnungsloser Neuling mit einer kleinen Gruppe in den Escape-Room in Woltem einsteigt, hat die Möglichkeit, etwas zum erfolgreichen Entkommen beizutragen. „Wir wollen, dass die Gäste gemeinsam etwas machen können. Es soll ein schönes Erlebnis für alle sein, die Leute sollen ein Lächeln im Gesicht haben. Wichtig ist, dass sie das Gefühl für die Zeit verlieren, deshalb ist in den Räumen auch keine Uhr zu finden, die funktioniert“, sagt Alvermann. Wer in der vorübergehenden „Gefangenschaft“ partout nicht weiter weiß, dem wird vom „Großen Bruder“, oder auch von der „Großen Schwester“ umgehend auf die Sprünge geholfen: Ein Spielleiter beziehungsweise eine Spielleiterin hat über Kameras das Geschehen im Container im Blick und gibt, falls nötig, über eine Telefonleitung Tipps, allerdings wohl dosiert, um den Fortschritt in der „Scheune“ zwar anzukurbeln, aber dabei den Rätselspaß nicht zu verderben.
Insgesamt gibt es abwechselnd vier Spielleiterinnen und -spielleiter, die am Monitor sitzen und das Geschehen im Container im Blick haben. Rund 300 Gruppen haben Alvermanns und ihre Unterstützer seit der Eröffnung des Containers „eingeperrt“ und dabei auch so manches am Bildschirm erlebt. Da gab es schon mal einen Streit zu sehen, der nach dem „Entkommen“ sofort beigelegt war, zumeist aber waren Teamwork und viel Gelächter zu beobachten.
„Wir hatten hier sogar ein Date, einen Mann und eine Frau aus Hannover beziehungsweise Hamburg, die sich in der Mitte getroffen haben, um zum Kennenlernen den Escape-Room zu machen“, freut sich der Ideengeber. Da seine Frau und er selbst gerade stolze Eltern geworden sind, zitiert er nur allzu gern einen Satz seiner Mutter, den er stets im Hinterkopf hat. „Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass man sich im Leben zu helfen wissen muss“, so der 28-Jährige, „und so ist das auch im Escape-Room.“
Eigentlich eine gute Idee: Passt die vermeintliche Partnerin oder der Partner, wenn es darum geht, Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen? Wer spielt sich auf? Wer ist besonnen? Wer arbeitet konstruktiv an einer gemeinschaftlichen Lösung?
Als Spielleiter hat Hauke Alvermann schon viel aus der Perspektive des Beobachters gesehen. Sein Tipp am Rande: „Wenn ich Chef eines Unternehmens wäre, würde ich Bewerber in einen Escape-Room schicken und über die Kamera beobachten. Es zeigt sich recht schnell, wer teamfähig ist, wer kreative Lösungen hat, wer sich in einer Gruppe einbringt.“
Er selbst hat, auch wegen der positiven Kritiken in den sozialen Medien, Lust auf mehr und schon den nächsten Escape-Room in Planung, weil es einfach viel Spaß mache, sich mit Rätseln und Herausforderungen für Interessierte zu beschäftigen.
Klar sei bereits, so Alvermann, dass auf dem Hof im September dieses Jahres ein „verdächtiger Lkw-Trailer“ eine Rolle spielen werde – und dann die „ermittelnden Zollbeamten“, versehen mit einer entsprechenden Ausrüstung, gefordert seien: „Bei der Durchsuchung des Sattelaufliegers wird plötzlich die Tür zufallen.“